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BVerfG: Versagung von Verfahrenskostenhilfe zur Verteidigung gegen einen Antrag auf Kindesunterhalt. BVerfGG § 93a, b, c I 1; UVG § 7; GG Art. 3 I, 20 III; ZPO § 114
- Das aus Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gebot der Rechtsschutzgleichheit gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes, wobei es verfassungsrechtlich unbe-denklich ist, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechts-verteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint.
- Auslegung und Anwendung des § 114 ZPO obliegen in erster Linie den zuständigen Fachgerichten. Diese dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung nicht überspannen, da hierdurch der Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt würde. (Leitsätze des Verfassers)
BVerfG, Beschluss vom 27.08.2014 1 BVR 192/12
Sachverhalt
Der 1964 in Kenia geborene, aber seit geraumer Zeit in Deutschland lebende Beschwerdeführer bezieht Leistungen nach dem SGB II. Er ist Vater zweier 2004 und 2006 geborener Töchter, für die die Unterhaltsvorschusskasse im Jahr 2011 aus übergegangenem Recht die Zahlung von Kindesunterhalt in Höhe von insgesamt 220,00 monatlich begehrt. Dabei wurde ein fiktives Einkommen des Kindesvaters von 1.170,– zugrunde gelegt.
Für seine Rechtsverteidigung beantragte der Beschwerdeführer Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung eines Rechtsanwalts mit der Begründung, er habe keine Ausbildung, sei der deutschen Sprache nur bedingt mächtig und habe sich bislang ohne Erfolg um Arbeit bemüht. Auch wegen seiner Hautfarbe habe er keine reale Beschäftigungschance. Außerdem hole er mit-tags seine beiden Kinder ab und betreue diese bis zur Rück-kehr der erwerbstätigen Kindesmutter.
Amtsgericht und OLG wiesen den Verfahrenskostenhilfeantrag mangels hinreichender Erfolgsaussichten zurück. Das Amtsgericht begründete dies damit, der Antragsteller könne auch als ungelernte Kraft bei einem Stundenlohn von 8,50 und einer Arbeitszeit von 173 Stunden/Monat ein Nettoeinkommen von rund 1.020,– erzielen. Außerdem sei ihm die Ausübung einer Nebentätigkeit zuzumuten, bei der er ein Einkommen von geschätzt jedenfalls 150,– erzielen könne. Das OLG, welchem der Antragsteller ergänzend mitgeteilt hatte, dass er bei der letzten Anstellung einen Stundenlohn von 7,21 erzielt habe, schloss sich der Argumentation des AG an und führte ergänzend aus, die Kindesbetreuung verhindere nicht eine Nebentätigkeit, da der Antragsteller in derselben Stadt wohne wie die Kinder.
Der Beschwerdeführer wurde aufgrund der Ablehnung von Verfahrenskostenhilfe mangels anwaltlicher Vertretung mit Säumnisbeschluss vom 15.11.2011 zur antragsgemäßen Zahlung von Kindesunterhalt verpflichtet. Hiergegen legt er verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag aufgrund vorheriger Prozesskostenhilfebewilligung Verfassungsbeschwerde ein und rügt die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG.
Entscheidung
Das BVerfG gewährt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und gibt der Verfassungsbeschwerde im wesentlichen statt:
In materieller Hinsicht sei entscheidend, ob sich der Be-schwerdeführer erfolgreich auf eine verminderte Leistungsfähigkeit berufen könne, was sich nach § 1603 Abs. 1 und 2 BGB richte. Dabei sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass nicht nur tatsächliche, sondern auch fiktiv erzielbare Einkünfte berücksichtigt werden könnten; dies gelte auch für Nebenverdienste, wenn der Unterhaltspflichtige eine ihm mögliche und zumutbare Erwerbstätigkeit unterlasse, obwohl er diese bei gutem Willen ausüben könnte. Es dürfe ihm aber nur Einkommen zugerechnet werden, welches von ihm in realistischer Weise erzielt werden könne, was von seinen persönlichen Voraussetzungen (Alter, berufliche Qualifikation, Erwerbsbiografie und Gesundheitszustand) sowie dem Vorhandensein entsprechender Arbeitsstellen und einer realen Beschäftigungschance abhänge.
Unter Berücksichtigung dieser Regeln habe das OLG die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverteidigung überspannt. Ohne weitere Feststellungen sei es davon ausgegangen, dass der Beschwerdeführer als ungelernter Arbeiter einen Bruttostundenlohn von 8,50 erzielen könne. Es habe sich nicht mit dem Vortrag des Beschwerdeführers, er habe bei seiner letzten Beschäftigung einen deutlich niedrigeren Stundenlohn (7,21 ) erhalten, befasst. Auch die Einschränkung durch den Umgang mit den 2 Kindern sei nicht ausreichend gewürdigt worden. Was die Nebentätigkeit betreffe, sei nicht erkennbar, von welcher zeitlichen Beanspruchung und von welchem Stundensatz das Gericht ausgegangen sei, da ohne weitere Differenzierung und Erläuterung lediglich ein erzielbares Einkommen von 150,– genannt worden sei.
Dies alles verletze den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 3 und 20 GG.
Praxishinweis
Die Entscheidung des BVerfG ist weitreichend. Neben den eingehenden und überzeugenden Ausführungen zu den fiktiven Einkünften macht das Gericht folgendes deutlich:
Die Klage oder der Antrag einer bemittelten Partei wird unabhängig davon angenommen, ob schlüssig vorgetragen ist oder nicht. Bei der unbemittelten Partei, die Verfahrenskostenhilfe beantragt, wird vor Annahme des Antrages oder der Klage die Schlüssigkeit oder Erfolgsaussicht geprüft. Das BVerfG will nun die Hürden, einer unbemittelten Partei das Führen eines Gerichtsverfahrens zu ermöglichen, nicht zu hoch gesetzt sehen.
Diese Entscheidungsbesprechung von Herrn Fachanwalt für Familienrecht Robert Erdrich, Bonn, wird in Kürze veröffentlicht in Neue Zeitschrift für Familienrecht